Wlad
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- liquidator
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Viktorija Naumenko: Also, heute ist der sechste Februar 2017, wir sind im Raum des „Verbands Tschernobyl“, ich bin Viktorija Naumenko (nachstehend V.N.) und ich interviewe… Stellen Sie sich vor, bitte.
Wlad „Modshached“: XXX [Wlad „Modshached“] (nachstehend W.M.)
V.N.: Sehr angenehm. Also, beginnen wir unser Gespräch mit einer allgemeinen Frage: Erzählen Sie bitte Ihre Lebensgeschichte. Alles, was Sie für nötig halten, womit Sie beginnen möchten.
W.M.: Meinen Lebenslauf? Oh, ich weiß nicht einmal, womit ich beginnen soll. Ich hatte ein übliches normales durchschnittliches Leben. Ich bin 1964 geboren, in einer Familie von Arbeitern und Bauern, bemerkenswert ist nur, dass alle meine Vorfahren beim Militär waren.
V.N.: Wirklich?
W.M.: Also ich kenne die männliche Linie meines Stammbaumes bis ungefähr 1763, deshalb weiß ich genau, dass die männliche Linie meines Stammbaumes, oder besser gesagt, er geht zurück… Bei den Frauen ist es schwieriger zu sagen, die Namen wurden gewechselt, hin und her, aber die männliche Linie meines Stammbaums kann ich zurückverfolgen… [...] Da waren alle Männer Militärangehörige, bis zu meinem Vater, mein Vater verließ den Militärdienst, es hat sich so gefügt. Er war bei der Armee, in Sewastopol, auf dem Kriegsschiff, aber mein Großvater war im Krieg und davor waren alle meine Vorfahren sozusagen (atmet auf) Erbadel, mein Name ist in der Stammtafel „Das Buch des Charkower Gouvernements“ eingetragen. [...] Sie stammen aus Krasnyj Kut, ich weiß nicht, vielleicht kennen Sie dieses Dorf, wie heißt es noch mal, Spiwutschi Terasy. Das ist nämlich Kosiewka, das ist Parchomowka. [...] Ich weiß nicht, vielleicht hat all das mich beeinflusst oder etwas anderes… Aber noch in meiner Jugendzeit habe ich immer davon geträumt, Militär zu werden. Ich ging mehrmals auf die Militärschule, gab auf, ging wieder hin und gab wieder auf… In gewisser Weise lief ich um den Militärdienst herum, das war noch in der Sowjetunion. Dann kamen die stürmischen Neunziger, kurz und gut, niemand achtete mehr auf die Armee, sie wurde wertlos, man brauchte ja Geld, man musste ja irgendwie durchhalten, daher flippte ich aus (atmet ein), ich fing so etwas an, kam vom Regen in die Traufe, hier und da, das waren nun nicht die besten Jahren meines Lebens, man könnte sagen, dass damals alles Mögliche geschah. Höhen und Tiefen, bis es zur heutigen Situation in der Ukraine kam.
V.N.: Und Sie sagen, Sie haben die Militärschule aufgegeben, haben Sie also eigentlich die Militärausbildung erhalten oder nicht?
W.M.: Die Militärausbildung nicht, ich bin sozusagen nur Fähnrich.
V.N.: Nach der Armee, meinen Sie?
W.M.: Ja, ich war im Dienst, ich habe ein Dienstzeugnis, das ich schon... Nach dem Pflichtdienst: Ich diente in Deutschland, ich diente im Turkestaner Militärbezirk, ich diente im Kiewer Militärbezirk, ich hatte schon eine gewisse Grundlage…
V.N.: Und wie lange waren Sie im Dienst?
W.M.: Ich? Fünf Jahre lang, bis zu diesem… Fünf Jahre war ich Fähnrich, dann – hab ich doch gesagt – als ich zurückkehrte, versuchte ich ja damit weiterzumachen, aber da gab es schon fast kein sowjetisches Charkow mehr, das war bereits ein Wendepunkt, als die Sowjetunion zerfiel und die ganze Armee, sie war schon kaputt. [...] Niemand wollte einen in den Dienst nehmen, man verstand nicht, entweder wird das eine neue Armee, eine ukrainische, sein, oder bleibt immer noch die sowjetische Armee, oder… Und dieser Wendepunkt, es war quasi nix, aber so viel ist da zerbrochen. Daher wurde es… Jedenfalls hatte ich schon kein Interesse mehr, für den Militärdienst, und ich gab es auf.
V.N.: Und wie… wie sind Sie nach Tschernobyl gekommen, als Militärangehöriger?
W.M.: Ja, als Militärangehöriger, als aktiver Soldat. Das war eine Geschichte, damals diente ich in Deutschland.
V.N.: Als die Katastrophe geschah, oder?
W.M.: Ja und… Das war ja 1986, April, wir haben es schon damals in den deutschen Nachrichten gesehen, also, die Mappe konnte man oft sehen – Kyjiw, Kyjiw, Kyjiw, und die Stadt Tschernobyl selbst war überhaupt… für uns war es sozusagen… nun ja, wer wusste, welche Kernkraftwerke es dort gab. Und dann hat es sich herausgestellt, dass so eine schreckliche Katastrophe geschehen ist, also, und das alles war sozusagen… Ich meine, jetzt verstehen wir ja, dass sie schrecklich war, damals hat es niemand verstanden. Europa schlug natürlich Alarm, aber wir erhielten kaum Informationen und, eigentlich sprach niemand über die Katastrophe, niemand erwähnte sie. Und im Spätherbst erhielt unsere Armee eine Direktive, wahrscheinlich, ja, ich glaube, unsere Armee. Ich war damals bei der Fernmeldetruppe und es gab, grob gesprochen, eine der Branchen von der Regierungsverbindung. Und für diese Station in Tschernobyl wurde eine Mannschaft angefordert. Niemand hielt solche Sachen für… Niemand wurde misstrauisch, so etwa: Man hat den Befehl, man muss ihn befolgen. Wir bekamen einen Auftrag, eine Mannschaft zu schicken, und wir machten uns auf, und eigentlich war jemand klug genug, uns ohne Technik zu schicken, denn die Technik wurde erst 1985 bei der Armee in Umlauf gebracht. Da, wo ich gedient habe, gab es für das ganze Militär etwa 20 Stationen, glaube ich. Das war…
V.N.: Etwas Neues?
W.M.: Etwas ganz Neues. All das, was für uns jetzt nicht mehr neu ist, diese neuen Gerätschaften mit Bildschirm, ich meine hier Computer, Kopierer, Farbsendung, das war 1985 alles neu. Das heißt, so dass Sie wissen, was nun auf Ihrem Tisch steht, all das hatte ich in der Maschine „Ural“ und 30 Tonnen Apparatur, das war mein Kopierer, so ein großes Ding. Damals war das doch sehr toll.
V.N.: Na ja.
W.M.: So etwas… und für das ganze Militär wurden vierzig Menschen angelernt. Zwanzig Offiziere, zwanzig Fähnriche und das war's, keine anderen Menschen durften dorthin gehen, keiner, nur eine begrenzte Zahl.
V.N.: Und der Befehl kam…
W.M.: Natürlich aus Moskau.
V.N.: …mit einem Auftrag… Nein, das verstehe ich. Und wurde der Auftrag erläutert?
W.M.: Ja, die Mannschaft zu ersetzen, die dort seit den ersten Tagen war. Diese Mannschaft war aus Gostomel. Also Gostomel, das ist ja der Kyjiwer Militärbezirk, und die Jungs sind dorthin geradezu in ersten Tagen nach der Explosion angekommen. Und sie sind dageblieben, von April bis Ende Oktober. Niemand hat sie ersetzt. Na ja, eigentlich gab es… gab es keine anderen Menschen zum Ersetzen und deshalb brauchte man jemanden… Ich weiß nicht, warum die Auswahl so ablief, also, es hat sich so ergeben, man kann alles vermuten, aber es ist wie es ist. Ich und mein Kommandeur, Witja Bojko, er ist aus Kyjiw. Aber wir haben den Kontakt zueinander verloren, ich weiß jetzt nicht, wo er ist, unsere Wege haben sich getrennt, sozusagen, und ich habe ihn nicht mehr wieder gefunden. Ob er am Leben ist, ob es ihm gut geht, das weiß ich nicht. Also, wir sind nach Tschernobyl gefahren.
V.N.: Zu zweit?
W.M.: Zu zweit. Ja. Da waren auch einige Jungs aus Belarus, auch ein Hauptquartier der westlichen Kursrichtung, jetzt erinnere ich mich nicht mehr an den Namen, auch ein Oberleutnant und ein Fähnrich, also, wir sind für drei Monate auf Streife gegangen, vier Menschen.
V.N.: Und wohin genau, wo sind Sie angekommen?
W.M.: Zuerst sind wir in Gostomel angekommen, da war gerade dieselbe Fernmelde-Brigade, [...] diese Mannschaft, und diese Fernmelde-Brigade aus Gostomel hat uns übernommen, aber dann beorderte sie uns nach Tschernobyl. Das heißt, die Militäreinheiten lagen gerade in Tschernobyl, und die wurden ja neu formiert: Daraus wurden schon einige… (atmet ein) Menschenbestände (atmet aus) genommen, und da komplettierte man einige… also, das waren, sozusagen, temporäre Militäreinheiten. Und von da her, aus Gostomel…
Also ich wurde direkt aus Deutschland nach Gostomel beordert, Gostomel hat mich schon beordert und später wurde ein falsches Spiel mit mir getrieben, ich konnte dann keine Spur mehr finden, wer mich…
Da diese Unterlagen temporär waren, wurden sie danach zerstört… Und so weiter und so fort, keine Finanzvergleichsmitteilungen, keine diese… kurz und gut, alles ist irgendwie so gelaufen. Nämlich habe ich die Papiere mit Müh und Not besorgt, durch Moskau habe ich sie zusammengestellt, die Ukraine hat mir garnichts bestätigt.
V.N.: Sie haben das doch geschafft, dennoch… [...]
W.M.: Nicht alles, natürlich, ich konnte es nicht erreichen, dass… Ohne Finanzvergleichsmitteilungen konnte ich nicht herausfinden, wie viel Gehalt mir bezahlt wurde, welche Geldmenge, daher bekam ich nur das Minimum und bekomme es bis zum heutigen Tag.
V.N.: Klar. Also Gostomel, und aus Gostomel nach Tschernobyl, nach Tschernobyl selbst, oder? Und was haben Sie da getan, ja, welche Pflichten hatten Sie und wie lange sind Sie dageblieben?
W.M.: Drei Monate. [...] Also vom 30. Oktober 1986 bis zum 18. Januar 1987. Nachrichtensicherung, direkt für Moskau, täglich um 24 Uhr hat die Mannschaft berichtet, die auf der Station Dienst getan hat. Also, außer der Gesamtsituation, die wir direkt über unsere Station übermittelten, telefonierten wir… Also die Verbindung der westlichen elektrischen Netze, wir telefonierten mit Moskau, berichteten dem General persönlich… Der Marschall der Sowjetischen Union, der Armeegeneral war damals Belyj, er war gerade Fernmelde-Offizier des Militärs in der UdSSR. Ihm berichteten wir. Wenn er den Hörer abnahm, oder sein Stellvertreter, jede Nacht berichteten wir über die aktuelle Lage, was geschehen war, und das heißt… Also, normalerweise verfügt das Fernmeldepersonal eines solchen Ranges über eine große Menge von Informationen, die im Regelfall den Geheimvermerk trägt, und wir, also wir hatten doch eine Zulassung zu allen… [...]
V.N.: Und wo wohnten Sie dann?
W.M.: Wir wohnten… Daneben lag ein Dorf. Also, wenn wir auf Streife gingen, blieben wir einfach auf der Station.
V.N.: Direkt auf der Station?..
W.M.: Ja, natürlich, ja, das sind zwei „Urals“, und der Winter war sehr kalt, übrigens, das Solaröl ist uns erfroren, und wir mussten dort ausharren, auf dieser Station, in einem eisernen Raum, im Winter, Januar, es war damals etwa 30 Grad unter Null.
V.N.: Aha, das war beim „Ural“ selbst, dieses System, es war in Tschernobyl, wurde es dahin gebracht?
W.M.: Das waren zwei „Ural“-Maschinen, sie waren einfach gebracht worden für… Da war ein Postamt. In der Stadt Tschernobyl selbst, und hinter dem Postamt lag ein Privathausviertel und gerade da haben wir den ersten Hof… genauer gesagt, diese Jungen, die… Sie haben den Zaun abgebaut und die Maschinen in den Hof gebracht, und die Kabel liefen bis zum Postamt, also das Postamt war für uns quasi…
V.N.: Eine Verbindung…
W.M.: …eine Stromversorgung, es versorgte uns mit Elektroenergie, und alle Telefonapparate, alles war damit verbunden. Und es war zivil und damals wurde dahin ja eine militärische Verbindung geleitet. Und das zivile… das heißt, auf der einen Seite war das Postamt militärisch, und von der Fassade, von der Straße war es zivil, da gab es noch diese… diese Sprechstelle, also so etwas, Paketsendungen, ich erinnere mich daran, noch etwas, also, genau da. Und der Wachdienst, also, je nachdem, zwölf Stunden blieben wir auf der Station, zwölf konnten uns ausruhen. Wir sind ins Dorf gefahren, und dann…
V.N.: Oranoje?
W.M.: … irgendein Dorf ja.
V.N.: Oranoje, oder?
W.M.: Nein, nein, nein, nein. Opatschytschy. [...] Wir sind ins Dorf gefahren, und dann… ich glaube, wieder zum Postamt, warum auch immer.
V.N.: Wohnten Sie im Postamt?
W.M.: Im Postamt, na ja, einige Betten hatten sie da ja, ich weiß nicht, die Mädchen, diese Telefonistinnen, Telegrafistinnen, sie hatten ein Wohnheim, ich glaube, oder so etwas, und bei uns… Also, für Männer… Ich erinnere mich an viele Mäuse, sehr viele, unglaublich, und wir hörten nachts Wölfe heulen, das Dorf war so menschenleer, keine Licht, nichts und niemand herum. Man geht raus, und da sind nur der Wind und Schneesturm, wuuhuu, heult (lacht), kurz und gut, wie im Krieg, bang bang, so etwas, ich habe es damals so empfunden, was einem Menschen eigentlich fremd sei, wahrscheinlich, also, etwas aus Horrorfilmen, und jetzt fühle ich mich genauso, es ist wie ein Déjà-vu, in diesen… in diesen Frontstädten, wo ich jetzt manchmal bin. Ich… ich komme zurück zu der Zeit, wo… Ich meine, es scheint mir, dass ich es schon erlebt habe.
V.N.: Wie in Tschernobyl?
W.M.: Ja, ja, auch verlassene Häuser, Fensterläden, diese... diese zerbrochenen Fenster, alles ist so leblos. Also, jetzt wohnen wir beispielsweise in Krasnogorowka, und die Stadt ist fast leer, niemand ist da, die Häuser sind verlassen, alle Menschen sind ausgezogen, gar kein Licht, keine… also, wie es das Schicksal wollte, fand ich mich dort wieder.
V.N.: (seufzt) Nun, Sie haben da im Dorf, im Postamtsgebäude, gewohnt, wie haben Sie zu essen bekommen? Mussten Sie irgendwohin fahren oder wurde es geliefert?
W.M.: Nein, das Essen wurde… In der Stadt Tschernobyl selbst haben wir gut gegessen, denn wir wurden sozusagen der Führungsabteilung beigeordnet, und dazu gehörten Generäle und so weiter, das heißt sie haben in einem Restaurant gespeist. Das Restaurant war übrigens direkt in Tschernobyl. Im Erdgeschoss waren, glaube ich, Geschäfte und im ersten Stock war ein Restaurant, für Generäle, also, wir hatten Zutritt, wir durften im Restaurant essen. Das waren ja keine Delikatessen, sondern Tagesmenüs, nun ja, aber das Essen schmeckte gut. Und wenn wir nach Hause gefahren sind, nach Opatschytschy, dann hatten wir schon eine Verpflegungsausgabestelle, einen Kochtopf, also…
V.N.: Eine Feldküche, oder?
W.M.: Ja, also Brei, diese Dauerwaren, Schmalzfleisch.
V.N.: Und haben Sie sich irgendwie erholt? Gab es ein Kulturprogramm für euch, irgendwelche Konzerte, vielleicht?
W.M.: Nein, manchmal, glaube ich, sind einige Sänger gekommen, aber das war äußerst selten, deshalb… Und nur wenn man Glück hatte, keine Dienststunden zu tun hatte.
V.N.: Aha.
W.M.: Oder eigentlich hatte man nie Glück, weil, wenn man Dienststunden tat, konnte man nicht kommen, und wenn man frei hatte, war es zu umständlich, aus Opatschytschy zu fahren, und die Freizeit, also, entweder schliefen oder arbeiteten wir, keine Optionen mehr. Na ja, noch erinnere ich mich an eine Sauna, direkt in Tschernobyl, ich glaube, sie war doch sozusagen städtisch, aber an einem bestimmten Tag durfte das Fernmeldepersonal sie besuchen, sie war quasi für Soldaten. Also, ein Dampfbad war das, besser als andere Baderäume, kurz und gut, und wir sind dorthin gegangen, und das war's mit den denkwürdigen Veranstaltungen.
V.N.: Und überhaupt, sind einige interessante Fälle vielleicht vorgekommen, etwas, was Sie sich eingeprägt haben?
W.M.: Na ja, es gab einige, ganz kindische, natürlich, ich war damals etwa 20 Jahre alt und ich hab im Restaurant eine Windjacke, die Windjacke eines Generals, angezogen.
V.N.: Wo haben Sie die gefunden?
W.M.: Also, alle sind gleich… Jeder kommt ja herein und hängt seine Jacke auf, die Jacken sind alle gleich, nur die Achselklappen unterscheiden sich. Und ich, also, ich habe ihm meine Windjacke gelassen und seine selbst angezogen und diese Generalsjacke… Und da, Sie können sich aber vorstellen, welche Sterne da waren, riesige, komplett gestickte und… ein Generalleutnant, das heißt, na ja, und das war sehr… Jetzt weiß ich nicht einmal, ob es in der Ukraine solche Rangstufen noch gibt; zwei komplett gestickte Sterne, und ich hatte auch zwei Sterne, als Fähnrich, also, zwei kleine Sterne, und ich habe meine Windjacke da hängenlassen und seine angezogen. Kurz gesagt, ich habe seine Windjacke eine Woche lang in Tschernobyl getragen.
V.N.: (Lacht) Und haben Sie das nicht bemerkt?
W.M.: Nein, und eigentlich, also, die Sache ist, dass niemand danach gefragt hat, woher ein solcher Bursche gekommen ist, verstehen Sie, 20 Jahre alt und ein solcher Militärrang, das war ja so etwas, kurz gesagt… und in diesem Hintergrund haben wir sogar mit meinem Kommandeur, mit Witja, damals eine kleine Szene gespielt. Wir, das war ja untertags, genauer gesagt nach unserem Nachtdienst, ich habe diese Windjacke nach dem Abendessen mitgebracht, und am Morgen mussten die Belarussen uns ersetzen, der Eingang zur Station war von hinten und unter der… Also, unten in der Kabine standen ein Computer und daneben ein Bürodrehstuhl, ich habe abgewandt gesessen und den Kragen aufgeschlagen, so dass man die Achselklappen sehen konnte… Also sitze ich, der Kopf ein bisschen geneigt, und diese Jungs, die Belarussen, die am Morgen gekommen sind, um uns zu ersetzen, sie kommen an und machen viel Lärm und dann sehen sie…: „Ruhig, ruhig, ruhig“, da sitzt der General und sie machen so viel Lärm (Rummel); (Viktorija lacht). Und ich… mir fehlten die Worte, ich konnte nichts machen und sagte: „Ähem, raus hier!“ Und sie: „Jawohl!“, „Pfutsch!“ und die sind zurück, die Tür knallt, und das war es. Wir sind mit Witja vor Lachen beinahe gestorben, eine Viertelstunde lang haben wir gewiehert. Na ja, das war eine Improvisation, verstehen Sie, ganz zufällig, nichts hatte das angedeutet, ich, ich hab sie einfach angezogen, habe da gesessen und dann: „Bum, bum, bum“, die Station und die stehen da, meine Güte, was mache ich?
V.N.: Und Sie haben „Raus hier!“ gesagt (lacht).
W.M.: Na ja, ich hab sie rausgeschmissen. Und Witja hat dann erzählt, er hat die Tür geöffnet: „Kommt rein.“ Und die haben gefragt: „Wieso 'Kommt rein?' Der General hat doch „raus hier“ gesagt“. „Kommt doch rein“, sagte Witja. Sie sind reingekommen, sie konnten noch nicht begreifen, dass kein General da war, es kommt nicht oft vor, dass man von einem Generalzum Teufel gejagt wird , verstehen Sie. Dann, als sie es kapiert hatten: „Du Hurens…“ Das haben sie mir dann doch vergolten, revanchiert sozusagen, aber das war erst später, viel später. Also, sie haben mich in der Nacht aufgeweckt, mit einem Anruf, um zwei Uhr nachts, und ich bin als Letzter hergelaufen: „Genosse Fähnrich, man hat angerufen und gesagt: 'Du hast aber hier im Nachweisbuch keine Unterschrift geleistet, für quasi, für die Verschrottung der Verschlusssachen.' Und ich habe gefragt „Ach, habe ich wirklich..?“ Ich weiß doch, dass ich unterschrie… Aber was, wenn nicht?“ „Ja, jemand aus der Spezialeinheit ist gekommen, mir scheint, du hast ein Problem.“ Ich musste aus Opatschytschy um zwei Uhr nachts dorthin hetzen, um… Kurz gesagt, als ich da war, stellte es sich heraus, dass es nicht nötig gewesen war. Okay, 1:1 dann. So etwas, also. Wir waren doch jung.
V.N.: Und Sie, Sie wurden nicht bestraft, oder? Hat der General seine Windjacke gefunden?
W.M.: Nein, nein, niemand. Ich weiß ja nicht, vielleicht hat er danach gesucht, aber das weiß ich nicht, da gab es so viele Generäle, wie Sand am Meer und mir war es egal, ob jemandem etwas fehlte, Blödsinn.
V.N.: Und wenn Sie…
W.M.: Da gab es doch keine Dokumente, also, demnach… Es ist nicht, dass ich ständig gestohlen habe, nein, nur diesmal, wegen der Achselklappen. Sie haben mir so gut gefallen, dass…
V.N.: Sie wollten sie ein bisschen tragen…
W.M.: Ja, diese zwei Sterne, genauso wie meine, aber erwachsene sozusagen, große, das hat mich eingenebelt. Und die Windjacke selbst, die waren doch alle gleich, wir haben alle die gleiche Uniform bekommen, nur die Achselklappen, deshalb. Wenn ich sie abgeheftet hätte, dann wäre es schon eine Plünderung gewesen, aber so mit der Windjacke zusammen.
V.N.: Sie haben darüber gesagt, ja, dass sie es erst später verstanden haben, was diese Katastrophe bedeutete…
W.M.: Ja, natürlich.
V.N.: Und als Sie in Tschernobyl gekommen sind: Sie haben generell als Fernmeldemann all diese neuen Informationen gehört, die andere Menschen nicht gehört haben, Sie…
W.M.: Ich habe sie trotzdem nicht wahrgenommen.
V.N.: Nicht?
W.M.: (Seufzt) Nein. Das war für uns… Das heißt, wir haben noch keine Folgen gesehen. Als wir es verstanden haben, welche Folgen das haben würde, dann hätte ich vielleicht das alles anders wahrgenommen, und so, nicht. So etwas wie Angst oder diese… Ahnung von etwas, nein, wir hatten das überhaupt nicht. Und, eigentlich… Ich weiß nicht, wir machten unsere Arbeit, wir verstanden, dass es… dass man musste, dass einige die oberen Bodenschichten entfernten, aber trotzdem, wir konnten es nicht begreifen, dass man Megatonnen dieser Schwarzerde wegbrachte, dass man etwas da ausgoss, etwas… All das waren, verstehen Sie, virtuelle Informationen, die man nicht greifen konnte, so war`s und deshalb… Natürlich, wenn ich ausgefahren wäre, aber so, bekam ich da und da schon sozusagen einprägte Informationen auf dem Papier, und einige Sachen habe ich nicht einmal gelesen, sie waren für mich nicht interessant, weil ich einfach ein, sozusagen Übertragungsglied war, ja, ich bekam sie, etwas konnte ich sehen und dann schickte ich das weiter; für die Menschen, die sich direkt mit dem Klären und Analysieren der Sachlage beschäftigten, war es wichtiger, und für uns…
V.N.: Wurde Ihnen irgendwelche Einweisung angegeben, wie… Oder nicht?
W.M.: Gar keine.
V.N.: Weder wie man sich schützt, noch…
W.M.: Nein, nein, nein, die Rettung Ertrinkender ist Sache der Ertrinkenden selbst, wenn man einen Maulkorb braucht, muss man zur Apotheke gehen und sich einen kaufen.
V.N.: Ach so.
W.M.: Ja. Niemand hat uns etwas gegeben, das heißt, ich glaube, so etwas wurde nur unter den Menschen verteilt, die sozusagen direkt, also Chemiker und so weiter, damit zu tun hatten, ja; und das Fernmeldepersonal war, sie hielten uns überhaupt für eine privilegierte Kaste, deshalb… Wir hatten zu eEssen, tTrinken, all das. Das war ja genug, wir hatten einen Zutritt zu verschiedenen Generalkantinen, wir hatten Briefe.
V.N.: Und wann, erinnern Sie sich an den Moment, als Sie begriffen haben, was das bedeutete, Tschernobyl, dass das eine Katastrophe war?
W.M.: Ja, das war schon gegen Ende der 1980er Jahre, als ich wieder hier zu Hause war. Als ich schon sehen konnte, nach meinen, nicht Dienstkollegen vielleicht, sondern Jungs, mit denen wir zu kommunizieren begannen, ich konnte sehen, dass einige Dingen in ihrem Leben sich sozusagen geändert hatten… Na ja, die Gesundheit hat all das später geprägt, natürlich, einige Sachen sind aufgekommen, die in diesem Alter eigentlich… (seufzt) die mussten nicht so sein (atmet auf). Wahrscheinlich gegen Ende der 1980er Jahre, ungefähr, 1989/90, so. Nur später ergab sich sozusagen ein…
V.N.: Ein komplettes Bild.
W.M.: Ja, ja, ja, genau, das Puzzle hat sich zusammengesetzt, aber im Großen und Ganzen nicht, umso weniger, verstehen Sie, wenn man auf dieser Weise lebt… Man hat ein gewisses Wohl, ja, und man braucht sich keine Gedanken zu machen, sich keine negative Geschichte sich auszudenken, wie es war oder sein wird, das war okay. Und erst dann, als es hervorkam und demnach in gewisse Probleme zu münden begann, erst dann fing man an, danach zu suchen, wo der Hase im Pfeffer lag, und es stellte sich heraus, dass er schon lange da lag. Nun ja, so war es…
V.N.: Und wohin wurden Sie nach dieser Dienstreise abkommandiert?
W.M.: Nach Deutschland.
V.N.: Sie sind nach Deutschland zurückgekehrt?
W.M.: Ja. Damit wurde die Sache vergessen, wo ich war, wie ich war, das heißt, nur ein Papier hatte ich in der Hand, dass ich dort gewesen war. Soviel dazu.
V.N.: Und haben Ihre Verwandten gewusst, dass Sie in Tschernobyl waren?
W.M.: Ja, sie haben es gewusst.
V.N.: Und wie haben sie das akzeptiert?
W.M.: Also, meine Mutter konnte mehr begreifen, meine jüngere Schwester kaum. Und… also, ich habe keinen Vater. Ich denke, dass meine Mutter mehr begreifen konnte, aber wahrscheinlich konnte selbst sie das Geschehene nicht völlig begreifen. Das alles war überhaupt… Also, etwas Unglaubliches, niemand sonst hat so etwas erlebt oder gesehen, und alle… Der Zweite Weltkrieg, okay, das war klar, ja, was ein Krieg bedeutete, man hatte etwas Ahnung. Man konnte ein Buch darüber lesen, einen Film sehen und so weiter… Auch wenn es eine Lüge ist, eine totale Lüge, aber trotzdem, es gab doch eine Informationsquelle, und was die Strahlung angeht, davon hat niemand gewusst. Na schon, Hiroshima, Nagasaki, all das war auch so fern und nur mit dem Ziel, also, diese Schweinehunde von Amerikaner,n das war ein wahrer Informationskrieg, dass wir gut und die Amerikaner Mistkerle sind, das war's, nur so wurde diese Strahlungsgefahr wahrgenommen. Tatsächlich… Ich machte mir keine Gedanken, hatte keine Angst davor… machte mir darüber keine Sorgen, nichts, ich tat einfach meine Arbeit.
V.N.: Und wie wurden Sie nach Ihrer Rückkehr behandelt, in Deutschland oder schon in der Ukraine, als Sie wieder da waren? Auf eine besondere Weise, nachdem Sie in Tschernobyl gewesen waren? Ich meine, Ihre Bekannte, wie z. B. Dienstkollegen, Mitarbeiter, andere Bekannte.
W.M.: Im Großen und Ganzen, je nachdem, wenn das eine… Also, mit der Behörde, wenn unsere Wege kreuzten, war das eindeutig negativ. Selbst mit den Freunden, nicht mit allen, aber die Hälfte von ihnen glaubte: „Ach, komm schon, er muss es einfach ausgesessen haben“. Das heißt, alle normale Menschen, die da gewesen sein, sind schon gestorben, und du Dreckskerl, du musst das bestimmt da ausgesessen haben, in diesem…
V.N.: Ach, als ob Sie da überhaupt nicht waren?
W.M.: Ja, ja, genau, na also, es gibt solche, das kommt aber auf ihre Rechnung.
V.N.: Na ja.
W.M.: Je nachdem. Aber jedenfalls gibt es sozusagen mehr Negatives, viel mehr als eine positive Einstellung.
V.N.: Und warum?
W.M.: Warum? Ich weiß es nicht. Weil die Menschen einen Eindruck bekommen, dass sie jemandem sozusagen etwas schulden, auch mir, und wie bekannt ist, man gibt seine Sachen nicht so gern ab. Die Menschen denken, nun muss man ihm aber eine Wohnung geben, man muss ihm vielleicht ein Auto geben, oder? Und jetzt sitzt er einfach da, erhält jeden Monat eine Rente, vielleicht muss dieser Dummkopf jetzt überhaupt nicht mehr arbeiten? Na also, Neid heißt das, ein solcher… Von mir aus gern, nimm eine Schaufel und los, es gibt noch viel Graphit auf dem Dach, geh und wirf ihn mal hinunter und bekomm eine Wohnung und ein Auto. Na also, verstehen Sie, dieser menschliche Neid…
V.N.: Klar. Ein gelber Neid.
W.M.: Na ja, als ob ich… Also…
V.N.: Und haben Sie danach Ihre Dienstkollegen, die Menschen, mit denen sie damals in Tschernobyl gewesen waren, kontaktiert?
W.M.: Nein.
V.N.: Wiktor haben Sie erwähnt, oder?
W.M.: Zu Witja habe ich völlig den Kontakt verloren, zu den Belarussen auch und das war`s, mit niemanden mehr von ihnen. Na, unser persönliches Netzwerk war ziemlich…
V.N.: …beschränkt.
W.M.: Ja, ein beschränktes persönliches Netzwerk hatten wir, bei so einer spezifischen Arbeit hatten wir weder Zeit noch die Notwendigkeit dafür. Die Bekanntschaft haben wir ja nur auf der Fernmeldestelle geknüpft, die Menschen sind für einen oder eineinhalb Monat dorthin gekommen. Wir waren jedenfalls der Fernmeldestelle beigeordnet. Also ein Bataillonskommandeur konnte bei uns vorbeikommen, wir haben einander einfach begrüßt, jetzt erinnere ich mich an nicht mehr an sie, deshalb… Einige Telefonistinnen sind vorbeigekommen, wir haben telefoniert, Nina, Ljuda, ich.
V.N.: Und waren Sie befreundet, hat es Ihnen Spaß gemacht?
W.M.: Na ja, wir waren jung, wir haben versucht, etwas herumzuspinnen, aber tatsächlich war es nur Wachdienst und Schlafen, wieder Wachdienst und Schlafen, nichts Besonderes… Man konnte nur etwas… Und dabei, keine Spirituosen wurden da verkauft…
V.N.: Haben Sie keinen Alkohol getrunken?
W.M.: Wie bitte?
V.N.: Haben Sie keinen Alkohol gebraucht?
W.M.: Doch, wir haben, unsere Station hat aber Spiritus bekommen.
V.N.: Sogar Spiritus?
W.M.: Ja, sechs Liter Spiritus pro Monat wurden uns ausgehändigt, für… Also, die Station war solide. Was meinen Sie mit „keinen Alkohol gebraucht“? Zur Dekontamination nein, also, zu besonderen Anlässen konnten wir eine Flasche Spiritus austrinken. Aber einen Zehntelliter jeden Tag prinzipiell… nein, das hatten wir nicht. In Geschäften gab es damals prinzipiell keine Spirituosen, man sagt, sie wurden damals täglich ausgehändigt, Quatsch, vielleicht hat jemand etwas bekommen, aber ich habe so was nicht gesehen, wir haben nichts bekommen.
V.N.: Und wie… Also, nach Tschernobyl ist einige Zeit vergangen, dann kamen die Neunziger Jahre, Sie haben eigentlich schon ein bisschen davon erzählt, dass sie da und da gearbeitet haben. Und jetzt tun Sie bei dem Anti-Terror-Einsatz in der Ostukraine ihren Dienst. Wie sind Sie dorthin überhaupt geraten, wurden Sie eingezogen oder war es freiwillig? Sie könnten direkt die Geschichte Ihres Lebens erzählen.
W.M.: Na also, 2014 fing das an, genauer gesagt noch mit dem Euromaidan fing das an, ich war, eigentlich… also, die Amtsgewalt von Janukowytsch war mir echt zuwider. Ich war kein Fan von seiner Präsidentschaft; und wiederum, wir wählen jemanden nicht, sondern hoffen, dass jemand einen wählt, so ist es bei uns. Lass es irgendjemand sein, wie zum Beispiel auch Juschtschenko es war, der trug ein traditionelles Hemd und schien vaterländisch gesinnt, aber er war weder Fisch noch Fleisch, so etwas. Dann kam ein anderer, also, es ist wie es ist, und als der Euromaidan kam, war ich eigentlich, ich war auch kein Fan, da zu sein, das ist nichts für mich, alle diese Menschen, die auf dem Platz zusammengekommen sind… Im Prinzip unterstütze ich sie, aber nicht so sehr. Ich bin, vielleicht, ein Mann des Militärs, ich verstehe, dass man etwas tun muss. Und wenn man so mit Fahnen geht, und jemand kann einen mit einem Stab oder einer Planke einfach schlagen, ich kann das nicht verstehen. Das heißt, man muss etwas tun, nicht so – heute sind mehr von diesen auf den Platz ausgegangen, das heißt andere waren schon geschlagen; morgen sind diese geschlagen, ich glaube, diese Taktik ist ein bisschen falsch. Deshalb, als die Kampfhandlungen begonnen hatten, mit der Krim, also, dann hat es mich sehr stark beleidigt, wie es mit meinen Freunden passiert ist. Ich habe sehr viele Freunde, mit denen ich beim Militär gedient habe, die meisten von ihnen sind eigentlich aus Russland. Wir haben uns zuletzt sehr oft getroffen; Als es das Internet schon gab, fingen wir an, dort zusammenzukommen. Ich habe einige Menschen gefunden, von denen ich schon nicht mehr gedacht hatte, sie wiederzusehen, und wir haben uns doch gefunden. Wir haben sie in die Ukraine eingeladen, sie sind zu uns gekommen, im Mai 2014 haben wir uns in Odessa getroffen, es gab eine… Sie sind zu mir gekommen und haben bei mir gewohnt, das war eigentlich… Also, Speck, Nemiroff (Marke von Wodka), all das ist nie ausgegangen, und sie sagten: „Ihr Ukrainer seid die Besten!“ Und dann wurden diese Worte ein bisschen später zu „Du Dreckskerl, du hast mich verhungern gelassen, als ich bei dir geblieben bin.“
V.N.: Nanu!
W.M.: Na also… Aber das war eine persönliche Sache, ich möchte darauf nicht aufmerksam machen, eigentlich, sie sollten doch etwas sagen, verstehen Sie. Und ich habe mir so was angehören müssen: „Ich bin am Morgen aufgewacht, du hättest mir etwas zu Essen geben können, ich habe nichts gesagt und bin bis zum Mittagessen hungrig geblieben.“ Ein solcher Blödsinn, verstehen Sie. Und das ist weitergegangen, ihre Reden haben mich sehr stark beleidigt, als sie uns Nazis genannt haben und alles weitere eben. Als sie mich gefragt haben, was wir da tun, ich konnte zuerst überhaupt nicht begreifen, was sie gemeint haben und wovon wir überhaupt geredet haben! Ich meine, bei uns war alles okay, nichts ist passiert, selbst der Euromajdan war noch nicht so… Und sie haben mich so belästigt, also, all das hatte etwas mit der Propaganda bei ihnen zu tun, das heißt, den Informationskrieg haben wir vollkommen verloren, zu 100 Prozent. Und bis heute sind wir eigentlich im Rückstand. Jetzt haben wir doch in Krasnogorowka 20 separatistische Kanäle, ich meine also, Russland, die Volksrepublik Donezk und keinen einzigen ukrainischen Kanal; was wollen sie weiter, welche… was wollen sie ändern? Nun ja, nach einiger Zeit haben sie mich weiter belästigt, dies und jenes, diese Beschuldigungen, und dann habe ich endlich gesagt: „Okay, dann kommt mal her, wenn ja, kommt mal, aber ich sage, ich schwöre, ich werde auf euch schießen.“ Sie haben etwas erwidert und ich habe gesagt: „Also schön, ihr kennt mich und ihr wisst nun, ich werde schießen“. Und an einem bestimmten Punkt ist es mir klar geworden, dass all dieses Fahnenschwenken überhaupt nichts für mich ist, das tue ich nicht. Damals sind einige Selbstschutzgruppen entstanden, einige Hinterhalte wurden gelegt, aber all das war ein Kinderkram, niemand wusste, wie man das tun sollte. Also, dann sind diese Freiwilligen-Verbände entstanden, aber ich hatte schon eine schlimme Erfahrung in Tschernobyl, wenn man entweder kein Siegel oder keine Unterschrift in den Dokumenten hat, und ich habe verstanden, dass alle diese Freiwilligen-Verbände temporär sind und man dann lang erklären müsste, dass man kein Esel sei, sondern dass man wirklich gekämpft hat; und jemandem ist das alles sowieso egal, weil man es nachweisen muss zeigen muss. Also, ich habe meinen Jungs sofort erklärt, dass wenn man gehen will, dann sollte man nur zu den Streitkräften gehen, so oder so sichert einem das einen Stempel im Wehrpass und einige Archivdokumente, das heißt, man kann später Belege finden, vielleicht nicht sofort, aber trotzdem. Und mit diesen Verbänden funktioniert es so nicht, man kommt zusammen, man kämpft eine Zeit lang, dann geht man auseinander und ibleibt mit leeren Händen zurück. Das heißt, meine eindeutige Entscheidung war nur zur Armee zu gehen. Na also, ich habe mich aber im Militärkommissariat gestritten, erstens ist es in meinem Alter so…
V.N.: Wollten sie Sie dort nicht einstellen, oder?
W.M.: Nein. Der Militärkommissar wiederholte, dass niemand in Charkow geblieben wäre, und falls man auch nach Charkow käme, dann sei kein Militär dort geblieben, alle wären zum Anti-Terror-Einsatz weggegangen. Er hat mir meinen Wehrpass abgenommen und hat ihn versteckt, also…
V.N.: Und wann sind Sie noch einmal zur Armee gegangen?
W.M.: 2014…
V.N.: Noch im Frühling, oder?
W.M.: Im Juli. Und als wir gekommen sind, gab es sieben von uns auf dem Appellplatz, das heißt, wir waren die Ersten, die gekommen sind. Erst später sind noch 5.000 gekommmmen, und von diesem Moment an […] hat all das für uns neu begonnen (seufzt)… Also, auf jeder Etappe, man geht ja wieder ins Blaue, man hat das nie erlebt und weiß nicht, wie es sein sollte, und deshalb habe ich mir jede Etappe warum auch immer gemerkt, als… Überhaupt habe ich eine Vorstellung davon, was auf mich zukommt, aber man kann nie genau wissen, wie all das sein wird. Ich verstehe, hier kommt ein Einberufungsbefehl, mit der Unterschrift aus dem Militärkommissariat; ich verstehe, dass es schon ein amtliches Dokument ist, nicht nur Reden, dann kommen wir nach Baschkirowka und bekommen eine Uniform. Ich erinnere mich an die Uniform in der Sowjetunion, eine Hose, ein Paar Stiefel, und hier hatte ich noch einen Helm, ein Kochgeschirr, und damit bin ich wieder sozusagen… Also, ich verstehe, dass es bereits keinen Weg mehr zurück gibt, ich begebe mich schon in eine andere, neue Dimension. Und dann hat man uns in ein Zelt gebracht, um eine Identifikationsnummer aufzuschreiben und ein Foto zu machen, und ich verstehe, wozu all das ist (klatscht) [...] Sowas habe ich noch nie erlebt, dieses Gefühl, dass alles noch vor fünf Minuten anders gewesen war, und jetzt… Und man tut das eben bewusst… Also dieses Gefühl und Gänsehaut und dabei hat man keine Ahnung, was morgen kommt, man weiß nicht, wie… Also diese Unsicherheit hat man, nicht, ob es richtig oder falsch sei, sondern, wohin man jetzt gebracht wird, was mit einem in 20 Minuten geschieht, welche Aufträge man bekommt und ob man sie schafft. Also erstens, gehörte ich zu einer gewissen Altersgruppe, etwas konnte ich tun und etwas nicht; das Armeeleben lag weit in der Vergangenheit, deshalb habe ich mir etwas Sorgen gemacht, und dabei bin ich in eine Aufklärungskompanie geraten, für mich war das auch ein wichtiger Schritt, ich habe mir auch Sorgen gemacht, weil ich niemanden in keiner Weise enttäuschen wollte. Eine Sache ist es, für sich selbst zuständig zu sein, und eine andere, für andere Menschen. [...]
V.N.: Und wie hat Ihre Familie Ihre Entscheidung aufgenommen?
W.M.: Also meine Frau… Meine Frau war sich bewusst, dass ich so handeln würde, wie ich es will, also, sie hat nichts dagegen eingewandt; wahrscheinlich brannte es ihr doch auf dem Herzen, alle regen sich in solchen Fällen auf. Und wir haben versucht, die Informationen für meine Mutter zu beschränken, sie weiß, dass ich in Tschuhujiw bin, sie weiß, dass ich von der Armee sozusagen besessen bin, sie…
V.N.: Sie versteht das auch.
W.M.: Sie versteht, dass ich in Tschuhujiw bin, dass ich ab und zu in den Bereich des Anti-Terror-Einsatzes fahre, weil dort eigentlich nicht so viele Menschen da kämpfen, eigentlich. Und wenn Journalisten an die Frontlinie kommen oder diese…
V.N.: Die Freiwilligen.
W.M.: Die Freiwilligen oder Kameramänner auch. Und wenn sie kommen, ist es immer so, dass man gern oder nicht ins Blickfeld gerät. Und wenn man dabei etwas Interessantes oder Nützliches tut, dann zieht sie das immer mehr an; 2014 bis 2015 haben wir einige interessante Veranstaltungen organisiert, deshalb sind wir in den Blickpunkt geraten, auf eine gute Weise, und die Medienleute haben uns verfolgt, um uns zu fotografieren oder zu interviewen, kurz und gut, wir waren sichtbar. [...]
V.N.: Na klar, und Ihre Mutter hat dann doch alles erfahren.
W.M.: Meine Mutter… Sie hat mich ab und zu im Fernsehen gesehen, ich habe zwar immer eine Sturmmaske getragen und man konnte mein Gesicht nie sehen, aber trotzdem erkennen mich meine ehemaligen Schulkameraden… Zwar ist mein Gesicht bedeckt und man kann nur die Augen sehen, aber meine Freunde können mich wahrscheinlich ganz einfach erkennen… Also dann hatte ich schon vor, die Armee zu verlassen, nachdem wir einen Schmuggelkanal geschlossen hatten. Und mein Dienstkollege, Dima Bulatow, mit dem ich ein gutes Verhältnis habe, ich weiß über seine ehemaligen Leistungen oder sein Leben nichts, ich weiß nur, dass er hier, an der Frontlinie war, und für mich ist das eigentlich eine beachtliche Sache. Also, er hat mich gebeten, ihm Deckung zu geben, ein Kamerateam vom Kanal ICTV ist gekommen, um ein Interview zu machen, und er hat mich und meine Jungs gebeten, ihn zu decken. Alle meine Kollegen waren eben weg und ich bin allein gekommen. Die Journalisten haben ihn eine Zeit lang interviewt, dann hat er gesagt, dass es eigentlich niemanden außer ihm gebe und sie sollten das Interview doch zu Ende bringen. Sie hatten aber doch noch ein paar Fragen und ich entschied mich, auch etwas zu sagen, weil ich nur noch wenig Zeit bis zur Entlassung hatte, und sie haben mich dann am Sonntag im Fernsehen gezeigt, in diesen Nachrichten...
V.N.: „Fakten der Woche“.
W.M.: Ja, genau, und das… das war eigentlich sehr cool, also, wenn man so mit einer Maschinenpistole und anderen Sachen dasteht, und das sah so aus, als ob das nicht in Tschuhujiw war. Und für mich ist es dort, an die Frontlinie, einfacher, als hier, dahinter; ich verstehe, was ich da tue, aber hier ist alles so chaotisch, diese Wirrnis, ein echtes Überleben; dabei versteht man, dass der Staat einen im Stich gelassen hat, und es ist besser, wenn man in einer gefährlichen Situation eine Waffe in der Hand hat. Für mich wäre es am schrecklichsten, wenn man zu meinem Haus käme und in meinem Garten herumträte, und ich könne nichts damit tun. Ich glaube, ich muss mich wehren. Der Staat erlaubt mir das nicht, umgekehrt, er versucht mich zu töten, der Nachbarstaat und dabei mein Staat auch. Deswegen weiß ich nicht, was morgen auf uns zukommt, das weiß ich nicht, aber ich würde mich sicherer fühlen, wenn meine Maschinenpistole neben mir wäre, so ist es.
V.N.: Sie haben einen Vertrag unterzeichnet, oder? Also, sagen Sie, bitte, Ihrer Meinung nach, diese Frage betrifft übrigens auch Tschernobyl: Was meinen Sie, lernt unsere Gesellschaft daraus, aus solchen Katastrophen? Also die heutige Situation betreffend, ist es schwierig, zu beurteilen, sie ist noch nicht zu Ende, man weiß noch nicht, was sein wird.
W.M.: Was die heutige Situation betrifft kann ich sagen, dass die Menschen, die da leben, gar nichts daraus gelernt haben.
V.N.: Zieht man keine Lehren daraus?
W.M.: Gar keine Lehren. Nur sehr wenige Menschen ziehen Lehren aus etwas, erstens, wegen mangelnder Informationen, zweitens, wegen der falschen Informationen, die Menschen da bekommen. Alle glauben, dass alles persönlich sein wird, dass der Krieg eine persönliche Sache ist, dass wenn ich gut bin, dann werde ich es gut haben [...], den anderen kann etwas passieren und mir nicht, morgen habe ich ein gutes Gehalt und so weiter. Diese Menschen haben überhaupt keine Ahnung, wie man sich fühlt, wenn Panzer schießen und wenn man in einem Keller ohne Licht leben muss und all das… Meine Verwandten haben mir einmal gesagt, vor zwei Jahren: „Besser ein Krieg , als so ein Leben.“ Sie verkaufen Waren auf dem Markt, für sie ist die Preissenkung eine Katastrophe. Und nach diesem Satz habe ich sie aus meinem Leben ausgestrichen. Ich habe gesagt: „Man muss dich in einem Kofferraum einschließen und an die Frontlinie bringen, damit du, Schweinehund, weißt, wie es sich anfühlt, wenn man neben dir schießt.“ Also, wir sind Militär, wir haben all das erlebt, und solche Menschen, die so etwas sagen, sie müssen in einem Keller ohne Licht eine Zeit lang sitzen, sie müssen ihre Nerzpelze gegen Schmalzfleisch umtauschen, um den Maßstab der Katastrophe zu begreifen. [...]
Sie können sich nicht vorstellen, was ein Krieg ist. Er bringt Heldentaten, Angst, Plünderung, Ermordung, Alkohol- und Drogensucht mit. Eine ganze Menge davon! Man kann nicht alles aufzählen, was das Wort „Krieg“ umfasst. Man weiß nicht, was man morgen oder heute wird, oder wen von den Freunden man ohne Beine, ohne Kopf sehen wird. Heute ist man in Ordnung, morgen hat man seinen Kopf abgeschnitten. Und wie benimmt man sich, wenn man früher einen Hasen nicht niederstechen konnte, aber jetzt muss man auf Menschen schießen… Verstehen Sie, was ich meine? Alles kann sich in einem Augenblick ändern. Man weiß nicht, wer morgen zu einem kommt: Ein Tschetschene oder ein Ushgoroder, wenn man aber eine Gefahr spürt, wird man sich auf jede Weise schützen, egal, wer das ist. Man wird sich wehren, und was dann kommt, kommt dann. Und die Menschen verstehen das nicht, sie glauben, es ist wie im Kino: Unsere Soldaten kommen und retten jeden. Das sitzt in ihrem Unterbewusstsein, dass unsere Soldaten nicht verraten und nicht kapitulieren, dieser Informationsdruck funktioniert bis heute. Deshalb müssen solche Menschen umlernen. Die Menschen, die an der Feuerlinie gewesen sind, verstehen das, sie sind an den Krieg gewohnt.
V.N.: Ja, übrigens.
W.M.: Und die Einheimischen möchten wahrscheinlich nichts anderes, sie bekommen eine humanitäre Hilfe, zum Beispiel 30 Kilo Hilfelieferungen pro Kopf, zuerst vom Roten Kreuz, dann von der Ukraine, dann… Sie wissen genau, wo man das heute aushändigt, die Hilfelieferungen sind bestimmt geplant. Ihnen ist es egal, wer und wo schießt… Sie müssen nicht mehr arbeiten, weil es reicht, diese 30 Kilo einer humanitären Hilfe und noch 30 Kilo einer anderen pro Monat zu haben.
V.N.: Ist es so in der neutralen Zone?
W.M.: Ja, genau. Und genauso ist es mit kleinen Dörfern wie Krasnogorowka, Awdejewka, die übrigens in der Feuerzone sind. Den Menschen geht es da gut. Natürlich, gibt es kein Licht und die Häuser sind teilweise zerbrochen, aber trotzdem möchten sie nicht weggehen, sie bekommen zwei Gehälter, zwei Renten und sie leben in Saus und Braus, sie müssen nicht mehr ins Bergwerk gehen.
V.N.: Und pflegen Sie Beziehungen zu Ihren Dienstkollegen aus Russland?
W.M.: Gute Beziehungen, meinen Sie? Ich würde sagen, wir haben neutrale Beziehungen.
V.N.: Bevorzugen Sie, dieses Thema nicht zu berühren?
W.M.: Nein, alle Themen weisen auf den Krieg hin, ich sehe keine Neutralität, ich verstehe, entweder kämpfen wir oder nicht. Keine Worte wie „Sie sind doch gekommen.“ Ich sage: „Doch, wir sind nicht hierher gekommen, das ist unser Land, wir werden hier selbst Ordnung schaffen.“ [...] Mit der Krim ist es anders, die Situation ist anfechtbar, weil das eine autonome Republik ist, mit eigener Gewalt und eigenem Grundgesetz, aber hier, in der Ostukraine, lassen wir so etwas nicht durchgehen.
V.N.: Und noch eine Frage, die das Gedenken und Veranstaltungen angeht, was meinen Sie, welche Veranstaltungen sollte man organisieren, zur Erinnerung an die Tschernobyl-Katastrophe und Ereignisse in der Ostukraine, oder wie der Euromajidan. Da der Krieg noch nicht zu Ende ist, können wir davon noch nicht reden. Also, zur Erinnerung an die Tschernobyl-Katastrophe haben wir zwei Feiertage: den Tag der Liquidatoren und den 26. April. Muss man solche Veranstaltungen durchführen?
W.M.: Aber natürlich, man muss die Gemeinschaft an diese Daten erinnern. Aber trotzdem, das ist schon in eine routinemäßige Sache geworden, das interessiert niemanden mehr. Nach meiner Erfahrung kann ich sagen, dass alle Organisationen, die sich mit solchen Veranstaltungen beschäftigen, sie machen das oft nur formal, einige Dokumenten wird unterzeichnet, eine Art Versammlung wird organisiert und etwas zum Essen und Trinken wird gebracht, aber alles andere ist egal. Niemand gestaltet so etwas. Vielleicht haben sie einen Koordinationsrat oder so eine Art. Ich habe diese Organisation prinzipiell verlassen, weil ich meine eigene Organisation gegründet habe, ich bin der Präsident des „Bundes der Kampfteilnehmer“, dazu gehören jetzt die Jungs, die gekämpft haben.
V.N.: Jetzt?
W.M.: Ja, das ist jetzt für mich viel interessanter, als diese infantilen Wesen, die sich zweimal pro Jahr treffen, ich möchte sie nicht kritisieren, aber sie haben nie etwas initiiert.
V.N.: Und haben Sie an dieser Arbeit teilgenommen?
W.M.: Von Anfang an, als die Organisation erst geschaffen wurde, ich habe immer den Präsidenten geholfen, in allen Punkten.
V.N.: Meinen Sie die Organisation in Ljubotyn?
W.M.: Ich habe damals sogar an einem Hungerstreik teilgenommen.
V.N.: In Kyjiw?
W.M.: Nein, in Charkow, das war ungefähr 1987 oder 1989, ich erinnere mich nicht mehr daran.
V.N.: Das heißt, das war der Beginn, oder?
W.M.: Ja, in Ljubotyn gab es damals noch keine solche Organisation, sie ist vor meinen Augen entstanden und ist genauso verschwunden. Also, überhaupt gibt es einige, wie „Einwohner der Stadt Ljubotyn“ und „Organisation der Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges“, die sind nur für die Statistik organisiert worden, und meine Dienstkollegen versuchen, auf die Städte sozusagen zu wirken. Manchmal finden sie einen Sponsor und wählen ihn. [...] Also, ich glaube, man muss daraus lernen, diese Informationen über Tschernobyl können wir nicht mehr weitergeben, sie sind verloren, man erinnert sich daran zweimal pro Jahr, nur wenn man das im Fernsehen sieht. Und das war`s. Das muss immer vor den Augen sein, auf Tafeln zum Beispiel, das muss sich einer einprägen. Ich habe einmal mit Journalisten gearbeitet und sie haben gesagt, dass die Informationen sich wirklich einprägen, wenn man sie fünfzehnmal pro Tag etwa fünf Sekunden lang sieht.
V.N.: Man muss das zeigen.
W.M.: Ja, wie mit der Reklame von „Colgate“. Man sieht fern und es ist allen egal, was für eine „Colgate“ es gibt, und jeder weiß doch, dass das eine Zahnpasta ist. Diese Reklame wurde fünfzehnmal pro Tag etwa fünf bis zehn Sekunden lang gezeigt und es reicht. Die Informationen müssen für die Menschen erreichbar sein, man muss darauf achten. Die Menschen haben schon das Tschernobyl verloren, es gibt kein Tschernobyl mehr für sie, die Katastrophe gibt es nur für diejenigen, die damit direkt verbunden waren oder mit Menschen, die mit Tschernobyl verbunden waren. Und das war`s, die übrige Gesellschaft hat keine Angst mehr vor etwas, für alle bedeutet Tschernobyl einen Stalker oder eine Wolfsjagd, eine gewisse Schutzhülle, das sind ganz kurze Momente in Nachrichten, die man überhaupt verpassen kann. Unser Problem ist, dass es uns an Informationen mangelt. Die Japaner erinnern sich doch an Hiroshima und wir haben Tschernobyl vergessen.
V.N.: Und möchten Sie Tschernobyl noch besuchen, nach einer so langen Zeit?
W.M.: Tschernobyl hat mich nie angezogen, ich streite das nicht ab, nach Deutschland bin ich nochmal gefahren, nach etwa… etwa 30 Jahren und es zog mich immer noch an
V.N.: Deutschland?
W.M.: Ich bin nach 30 Jahren sowieso dorthin gefahren. Ich bin zum Ort meiner Militäreinheit gekommen, wo meine Wohnheim war und da…
V.N.: In welcher Stadt war das?
W.M.: In Fürstenberg, dort war in Ravensbrück ein Konzentrationslager für Frauen und Kinder…
V.N.: Genau.
W.M.: Unsere Militäreinheit lag auf dem Gebiet Ort von diesem Konzentrationslager und… Und über Tschernobyl habe ich nie… Also dort, in Deutschland, war ich für eine längere Zeit, ich habe mehr Erinnerungen, ich war jung und es gab damals Streiche, daran man sich jetzt erinnern kann. Und Tschernobyl war für mich eine gewöhnliche Arbeit, und die hat mich nicht mehr angezogen. Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich fahren, wenn nicht, dann ist es okay, dieser Ort hat für mich keine besondere Bedeutung, eigentlich.
V.N.: Und hat Ihr Dienst Sie beeinflusst, eine wichtige Rolle in Ihrem Leben gespielt, was meinen Sie? [...]
W.M.: Nein. Der Dienst selbst hat nur beeinflusst, dass ich in Tschernobyl gewesen war.
V.N.: Und das war es, oder?
W.M.: Und das war es, dann war der Dienst für mich zu Ende, als ich die Armee verlassen habe, nur Tschernobyl ist geblieben, eine Nervensäge mit allen Folgen, das war es.
V.N.: Und jetzt tun Sie seit drei Jahren Ihren Dienst, sind Sie jemanden unter Ihren Dienstkollegen begegnet, der auch in Tschernobyl gewesen war?
W.M.: Nur einen, das ist mein Kamerad, er ist auch zum Anti-Terror-Einsatz geschickt worden.
V.N.: Ist er zurzeit auch im Dienst?
W.M.: Nein, er hat sich zurückgezogen, ich habe ihn nicht mehr getroffen, es ist Jura Woroschylow, vielleicht kennen Sie ihn?
V.N.: Ja, ich kenne ihn.
W.M.: [...] Auf seine Anregung hin wurden wir belohnt, mit dieser Auszeichnung „25 Jahre Unabhängigkeit“, zwei dieser Denkmünzen wurden in eine Tschernobyl-Organisation ausgeliefert, einige Menschen sollten belohnt werden und Jura Woroschylow hat auch seine Vorschläge gemacht. Ich erinnere mich an einige Namen, einige haben die Auszeichnung anlässlich des sechzigsten Geburtstages oder noch etwas bekommen. Jura musste damals erklären, aus welchem Grund eine Anfrage auf Belohnung gestellt worden war. Und ich war keine 60 Jahre alt, ich wusste nicht, welchen Grund man nennen konnte. Und Jura hat mir gesagt, dass es im Charkower Gebiet etwa 13 500 Liquidatoren gibt, wenn ich mich nicht irre.
V.N.: Ja wahrscheinlich.
W.M.: Im Gebiet oder in der Stadt, ich weiß es nicht. Also er hat gesagt, dass ich der erste und fast der einzige von denen war, die zum Anti-Terror-Einsatz weggegangen ist.
V.N.: Ach so.
W.M.: Also, es gibt noch zwei bekannte Menschen außer mir. [...] Das heißt, nach meinen Angaben, es gibt eben nur drei Menschen, die nach Tschernobyl zum Anti-Terror-Einsatz gekommen sind.
V.N.: Und Ihre Belegschaft… Oder vielleicht sage ich es falsch, ich meine, wissen die Menschen, mit denen Sie jetzt dienen, dass Sie in Tschernobyl gewesen sind?
W.M.: Nein, nur sehr wenige Menschen.
V.N.: Sehr wenige?
W.M.: Also, ich mache nicht darauf aufmerksam. [...] Das ist mein persönlicher Kopfschmerz und… Das ist keine passende Situation, verstehen Sie? In der Armee beschwert man sich nicht, dass etwas weh tut oder so was… Nein, es ist da anders, man tötet da und deshalb ist es lächerlich, jemandem zu sagen, dass einem ein Finger weh tut. Niemand achtet da auf solche persönlichen Probleme. [...]